Graffity und Genickschusseinheiten -
Eine Reise ins unbekannte Tschechien

Copyright by Heiko Focken

Nach mehreren Tagestrips zum böhmischen Nachbarn stand über den ersten Mai einmal mehr eine mehrtägige Reise ins südöstliche Nachbarland auf dem Programm. Ziel sollten dieses Mal die Beskiden sein, die im Nordosten der Tschechischen Republik, jenseits der Industriereviere um Ostrava, die Grenze zu Polen und der Slowakei bilden. Eine Ecke, die von den zunehmend in das nicht nur eisenbahntechnisch ungemein reizvolle Nachbarland drängenden Fuzzys noch relativ unbearbeitet auf ihre Entdeckung wartet, aber - soviel sei bereits an dieser Stelle gesagt - nicht nur aufgrund der herrlichen Landschaft die Reise gerechtfertigt hat. Ein Bericht von Markus Lohneisen über die Einsätze der letzten Doppelstockeinheiten der CD gaben schließlich den Ausschlag, eine fünftägige Tour nach Mähren in Angriff zu nehmen.

Von Bamberg aus starten Tilo und ich also am Samstag vormittag trotz mehr schlechter als rechter Wetterlage mutig die Tour in den Osten. Wenn´s regnen sollte machen wir halt eine Hardcore-Tour mit dem Zug. Eine Entdeckerreise für künftige Fototouren sozusagen. Schließlich braucht man ja sich selbst gegenüber eine Rechtfertigung, um die Fahrt nicht schon im Vorfeld abzublasen. Doch zum ausschließlichen Im-Zug-sitzen sollte es nicht kommen, denn jenseits der Knödelgrenze meinte es der Wettergott dann doch ein ganzes Stück besser mit uns. Doch dazu später.

Rund um Cheb geht es zunächst noch mit Tilos Peugeot 205 auf Fotopirsch. Neben dem IC “Karlstein/Karlstejn”, dem die DB lediglich eine profane IR-Garnitur spendierte, aber dennoch fleißig die 3,60 € Zuschlag kassiert, steht zunächst Vogtlandbahn am Grenzübertritt bei Pomezí auf dem Plan. Südlich von Cheb besuchen wir bei Lipova einen Stausee, aus dem der Obergurt einer im See versunkenen Brücke hervorguckt... Nebenan ist eine 363 mit dem “Karlstein/Karlstejn” auf der Weiterfahrt nach Praha beschäftigt, anschließend gibt´s noch ein wenig Viamont im tief eingeschnittenen Svatavatal. Der Sonnengott meint es trotz etwa 50% bewölktem Himmel zum rechten Moment stets gut mit uns. Lediglich den abendliche Kohlezug von Cheb nach Arzberg lassen wir unter dem akustischen Erlebnis der Dienst habenden Taigatrommel im strömenden Regen unfotografiert gen Westen rollen.

Nach einem zünftigen Knödelessen in Cheb besteigen wir kurz vor 19 Uhr den ZSR-Schlafwagen des R 421 "Excelsior" (Cheb - Ustí - Prag - Ostrava - Kosice), für den wir vormittags bereits zwei Bettplätze reserviert haben. Für die Fahrkarte Cheb - Ostrava hl.n mit Karta Z verlangt die Dame am Cheber Mistenki-Schalter 430 Kronen. Dazu ein Schlafwagenbett für 149 Kronen - mal sehen, wie lange die Tschechen diese Preise noch durchhalten. Kostet doch Vieles schon die aus dem Westen gewohnten Preise... Der Wagen aus volkseigener Fertigung ist sauber und läuft ruhig, und so beginnen wir mit einem Baguette als Wegzehrung und den landestypischen Waffeln als Nachtisch unsere 11-stündige Fahrt quer durch die tschechische Republik. So eine Fahrt im Schlafwagen ist so etwas wie die Vollendung der Reisekultur. Ein Hauch von Exklusivität, fernab von Großraumwagen, hektischem Ein- und Aussteigen und Handygebimmel.

In Karlsbad bezieht ein Tscheche das dritte Bett, Unter dem Klang der Finsterdreinblickenden (BR 749), die nach dem Lokwechsel unsere 8 Wagen durch das nicht elektrifizierte "Tal der Tausend Taigatrommeln" (zumindest war es das bis 1999) bis Kadan schleppt, schlafe ich trotz der frühen Stunde ein. Draußen hat sich´s inzwischen eingeregnet...

Nur einmal wache ich unterwegs auf, weil ein Lautsprecher vor dem Fenster meint, mitten in der Nacht alle Haltebahnhöfe unseres Zuges lautstark verkünden zu müssen und mehrmals auffordert das Einsteigen zu beenden usw. Aber sonst haben wir eine gute Nacht und steigen fit in Ostrava hl.n. aus, wo uns ein herrlicher Sonnentag begrüßt. Keine Spur vom Regen des letzten Abends. Guten Morgen, Mähren! Gut, dass wir uns nicht von dem gestrigen Wetter in Bamberg haben abschrecken lassen! Auf dem sonntäglich ruhigen Bahnhofsvorplatz warten ein paar Tatrawagen auf ihren nächsten Einsatz, aber insgesamt lässt der erste Blick aus dem ziemlich hässlichen Bahnhof die Stadt wenig attraktiv erscheinen. Nachdem wir dann schon morgens um halb sieben von einem örtlichen Schluckspecht in der Bahnhofshalle nach Kleingeld angeschnorrt werden, beschließen wir, diese Stätte alsbald zu verlassen und uns auf die Spuren der letzten CD-Doppelstockeinheiten zu begeben.

Der bebrillte Dosto-Ausflugszug 13126 auf der frühlingshaften Stichstrecke 324 bei Ostravice zastavka am Fuße der Beskiden.

Ostrava hl.n ist ein Keilbahnhof. Gegenüber des ungemütlichen Empfangsgebäudes, wo man die Fahrkarten im Keller kaufen muss, fahren die Züge auf der nicht elektrifizierten KBS 323 in Richtung der Beskiden ab. Dort steht neben einem Rudel Brotbüchsen wie selbstverständlich eine dunkelgrüne Genickschusseinheit am Bahnsteig, als würde im ganzen Land nichts anderes umherfahren. Eine weitere wartet in der Abstellanlage. Die Farbe “Dunkelgrün” muss leider relativiert werden, denn leider sind die Doppelstockzüge mit riesigen und halb verwitterten Graffitys verziert, der Lack blättert, und die Faltenbälge haben ihre Kunststoffschutzplane verloren, sodass nur noch ein filzähnlicher Stoff zwischen den einzelnen Wagenteilen hervorhängt. Im Gegensatz zum wenig attraktiven Äußeren sind die Fahrgasträume der Wagen aber recht gut in Schuss, und unter dem markanten Da-da-dang der dreiachigen Drehgestelle rollen wir neben dem weit herunter gekurbelten Fenster im Oberstock durch den Abgasnebel der mächtig arbeitenden Taucherbrille ostwärts. Immerhin hat diese neben unserer 4-teiligen Einheit noch drei flache Wagen zu schleppen, die sich von Station zu Station mit wanderlustigen Ausflüglern recht gut füllen.

Über Ostrava-Kuncice und Frydek-Mistek verlassen wir die industriell geprägte Region Ostrava und befinden uns nach einer knappen Stunde Fahrt in einer zwar nicht spektakulären, aber ungemein reizvollen Landschaft am Fuße der Beskiden wieder, deren erste 1.300-er nun im Osten aus der Ebene aufragen. Rund um den Knoten Frydlant stellen wir in den kommenden Stunden den Dostozügen nach, deren in der tschechischen Fuzzyzeitung “Draha” geschilderte Einsätze zu unserer Freude sehr genau eingehalten werden. Frühlingshafte Temperaturen lassen auch etwaige Zugpausen nicht fröstelig werden, und unzählige Löwenzähne wetteifern mit den kräftigen Farben der allenthalben blühenden Bäume. Wenig Anlass zur Freude bietet dagegen der äußere Zustand der meisten Einheiten, der in scharfem Kontrast zu den gepflegten Lokomotiven steht. Als Beiprogramm begegnen wir auf der Stichstrecke 324 nach Oslavice als Kopf eines sechsteiligen Brotbüchsenbandwurms dem 812 613, der so etwas wie eine Luxusbrotbüchse dastellt: Neue Front, getönte Scheiben, grün-silbern lackiert und auf den Namen "Esmeralda" getauft, Einzelsessel im Inneren - leider bleibt uns der Zweck seines Umbaus verborgen. Ebenfalls mit von der Partie ist 811 494, einer der beiden Brotbüchsen, die vor einigen Jahren eine Frischzellenkur des Innenraums erfuhren. Sieht von außen aus wie ein stino 810, ist innen aber mit Einzelsitzen & Co. ausgestattet.

Leider hat der Wirt gegenüber des Bahnhofes Ostravice noch kein warmes Essen, aber so ganz ohne mag er uns auch nicht gehen lassen. So bekommen wir Kesselgulasch, welches in kleinen, in einem Gestell freischwebend aufgehängten Töpfen vor uns auf dem Tisch serviert wird, unter denen zum Warm halten eine kleine Flamme brennt. Wie so eine Art Fonduetöpfchen. Das hat Stil, und schmecken tut die gut gewürzte Speise auch! Das ganze für 58 Kronen pro Topf, und wir sind bis zum Abend gesättigt.

Mit vollen Bäuchen frönen wir nun dem Fuzzytum, und erst nachdem schließlich der Wochenend-Dostozug nach Oslavice - sonst fahren hier nur Schienenbusse - unsere Linsen passierte, milcht der bis dato fast wolkenlose Himmel ein wenig ein. Wir fahren daher von Frydlant weiter südwestwärts nach Valasske Mezirici (sprich: Wálaschskje Meßirschitschi) und von dort aus nach Vsetin weiter. Hier verläuft die elektrifizierte Strecke 280 von Olomouc / Prerov über die Berge und Horní Lidec in die Slowakei. Ein Privathotel gegenüber des Bahnhofes hat entgegen seiner Beschilderung offenbar geschlossen, sodass wir im VEB Hotel "Vsacan" absteigen. Hier in der Gegend heißt ziemlich viel "Vsacan", sogar ein Schnellzug ist so benannt. Was das nun aber auf gut deutsch bedeutet - ich habe es nicht heraus bekommen. Das Hotel jedenfalls ist trotz oder aufgrund seines Namens von innen um Längen besser als sein äußeres Erscheinungsbild und bietet für 980 Kronen ein großes Zweibettzimmer mit Frühstück. Dazu ein netter Blick auf´s Tal - wozu wohnt man schließlich im 6. Stock?

Der Montag begrüßt uns wieder mit strahlendem Sonnenschein. Grund genug, ein paar Güterzüge mit 181 oder 182 auf der E-Strecke nach Horní Lídec (- Slowakei) abzulichten. Leider bleibt dabei aber der Wunsch Vater des Gedanken, denn was in dreieinhalb Stunden unter unserer Fotowiese vorüberfährt, sind ein Brotbüchsengespann, versiffte grün-gelbe Knödelpressen mit vollständig besudelten Reisezugwagen und eine Taucherbrille mit einem farblich ebenso individuell gestalteten Leerreisezug. Nach 32 Stunden Mähren kann festgehalten werden, dass die CD hier ein Graffityproblem erster Ordnung hat! Dafür aber am Montag selbst auf internationalen Strecken keine Güterzüge mehr. Statt Güterzügen bekommen wir nach dreieinhalb Stunden in schönster Sonne aber einen zünftigen Sonnenbrand. Im April! Und in Deutschland soll´s an jenen Tagen geregnet haben...

Mittags brechen wir unsere Zelte ab und fahren weiter Richtung slowakische Grenze. Dort ist im Güterbahnhofsteil eine ZSR-Doppellok mit einem Güterzug zu Gange, aber wir fahren über die Strecke Horní Lídec - Bylnice (KBS 283) erst einmal durch drei Tunnel und Schleifen durch die Ausläufer der Beskiden runter ins Tal der ungarischen Minderheit. Walachisch, “Valasske” nennt sich dieses Gebiet, nicht zu verwechseln mit der Walachei im Süden Rumäniens. Zum Knipsen in den blühenden Obstpantagen bei Valasske Klobouky setzen wir einen Zug aus, was die quadratische Schaffeuse ja nun gar nicht begreifen kann... Leider gibt´s nur Brotbüchsen und eine rostige Arbeitsdraisine.

Der Abzweigbahnhof Bylnice ist üppig mit Formsignalen und Telegrafenleitung ausgestattet, und gleich drei Brotbüchsen rangieren mit ihren Beiwagen wild im Bahnhof hin und her. Auch der Eilzug über die KBS 341 nach Brünn - immerhin zweidreiviertel Stunden Fahrzeit - besteht aus einem 810, was uns schon ein wenig komisch vorkommt. In Slavicin dann die Erklärung: Alle raus aus dem Zug! Mist, gerade hier. So haben wir die interessante schleifenförmige Trassierung auf drei Ebenen bei Pitin wegen Bauarbeiten leider nur durch die Scheiben eines über die Landstraße preschenden Karosa-Busses beobachten können. Auch der graffitierte Taucherbrillen-Lr von heute vormittag ist durch diese Streckensperrung erklärt, der muss irgendwie über Horní Lidec umgeleitet worden sein. Die KBS 341 ist durchaus nochmal einen Besuch wert. Einmal natürlich wegen der Trassierung und der Landschaft, aber auch wegen vollständig intakten der Telegrafenleitung und der interessanten Fahrzeuge - wie wir später feststellen, laufen hier mitnichten nur Brotbüchsen!

Gleich heißt es "Odjezd!" für den aus einer 850-Garnitur gebildeten Eilzug nach Brünn, der gerade in Uh. Brod Personen und Expressgut aufgenommen hat.

Ab Bojkovice geht´s dann im "richtigen" Eilzug weiter, bestehend aus einem original 850. Die Teile sehen immer so aus, als würden sie ein Düsentriebwerk auf dem Dach spazieren fahren. Innen sitzt man auf Kunststoff, dazu macht der VT ziemlich schrille Motorengeräusche; also, ich knips diese Triebwagen lieber als mitzufahren. Die Landschaft wird langsam flacher, ist aber dennoch sehr reizvoll. Zwecks Unterkunftssuche steigen wir auf gut Glück gegen 17.15 Uhr in Uhersky Brod aus. Der Bahnhof macht seinem Namen "Uhersky" (ungarisch) alle Ehre, denn seine holzgeschnitzten Fassaden erinnern tatsächlich an Volkskunst aus dem Paprikaland. Leider macht eine riesige Hühnerfarm unmittelbar am Bahnhof den Aufenthalt dortselbst unerträglich, wenn der Wind aus westlicher Richtung kommt. Jedenfalls ein wirkungsvolles Mittel gegen unerwünschte Fuzzys, die vor der Kulisse des barocken Gymnasiums den abendlichen Os 4312 mit seinem Sarg 843 ablichten wollen.

5 min vom Bahnhof entfernt beziehen wir nach kurzer Suche ein nettes kleines Privathotel für rund 850 Kronen. Zwecks Streckenkunde fahren wir abends vor dem obligatorischen Knödelessen noch mit der Brotbüchse auf die Stichstrecke nach Luhacovice, einem bekannten tschechischen Kurbad. KBS 346 - danach kommen im Kursbuch nur noch Museums- und Bergbahnen. Hätte nie gedacht, in dieser Gegend einmal auf Fuzzytour zu gehen. Immerhin gibt es neben der allgegenwärtigen Brotbüchse auf dieser Nebenbahn in den Kurort einen täglichen Schnellzug nach Prag - Reminiszenz an die FD-Züge der Deutschen Bundesbahn: Ohne Umstieg in den Urlaub.

Die Erkundungsfahrt ergab eine interessante Ortsdurchfahrt in Polichno, wo wir am nächsten Morgen den Schnellzug nach Prag ablichten. Der zockelt dort mit Tempo 20 durch den Ort. Saubere Brille, dafür ist der erste Wagen natürlich wieder besudelt. Das nervt langsam, wenn bis auf Triebwagen und Loks wirklich jeder Zug graffitiert ist.

Leider zieht´s am Himmel ein wenig zu, sodass wir beschließen, nach Brünn durchzustarten. Der Sp 1924 besteht aus einer Taucherbrille mit einer Handvoll Abteilwagen. Auf Plüschsitzen des Bdmee aus Bautzner Nachwendeproduktion rollen wir durch relativ flaches Land westwärts. Ab Vesilí nad Moravou ist die inzwischen 340 heißende Strecke bis Brünn zweigleisig - selten genug für eine nicht elektrifizierte Hauptbahn beim Tschechen. Ach, man kann in diesem Land noch soviel machen... Die Brille kann sich mit ihrem Eilzug nun richtig austoben und überholt auf der parallelen Landstraße diverse Skodas. Aus südlicher Richtung erreichen wir pünktlich um 13.35 Uhr Brno Hlavní nadrazí.

Brünn, mittags um kurz nach halb zwei: endlich wieder Zivilisation! Im unübersichtlichen Hauptbahnhof wartet gleich ein Gespann aus 850+050+050+830+050 auf den Eisenbahnfreund, in dessen Angesicht wir den Stadtbummel ad hoc auf später vertagen. Außerdem hat sich die Sonne gegen die Wolkenmilch schon wieder so gut wie durchgesetzt - also erst einmal weiter im Fuzzyprogramm. Schnell beim Eisernen Schaffner eine Fahrkarte gezogen und spontan eingestiegen. Mal sehen, wo uns diese Fuhre hinbringt. Leider haben am Automaten aus Versehen Kinderfahrkarten gelöst. Für mich als Karta-Z-Halter kein Problem, aber Tilo muss nachlösen. Der Schaffner redet die ganze heftig Zeit auf uns ein, während er in seinen Tarifunterlagen kramt und diese im Eifer des Gefechts auch gleich auf dem Fußboden verteilt. Merkt der denn überhaupt nicht, dass wir ihn nicht verstehen? Wie auch immer, das macht dann sechs Kronen Übergang und 20 Kronen Nachlösezuschlag...

Schwerfällig verlässt die Fuhre auf der KBS 244 Brno in Richtung Süden. Man hat nicht das Gefühl, dass es richtig vorwärts geht. Über Tempo 50 kommen die beiden altertümlichen VT nicht wesentlich hinaus, und an den Bahnhöfen dauert es ewig, bis alle Türen geschlossen sind, sich die Personale beider Zugteile verständigt haben und es dann endlich weiter geht. Entgegen unserer Erwartungen gestaltet sich die Landschaft vor dem weit geöffneten Fenster allerdings als ausgesprochen hügelig und abwechslungsreich. In Moravske Branice erfolgt dann mit Hilfe des hier extra stationierten Rangierers die Zugteilung: Der 850 verschwindet mit seinen beiden Anhängseln in Richtung österreichische Grenze, wir bleiben im 830 nebst Anhang sitzen und fahren nach einiger Zeit in sehr gemäßigtem Tempo auf den abzweigenden Streckenast nach Oslavany, welcher hoch am Hang über einem Tal verläuft.

Hinter der Streckengabelung verlässt uns die Hauptbahn nach links und überquert sogleich auf einen gewaltigen Stahlviadukt das mehrere hundert Meter breite Tal. Was für ein Bauwerk! Also am nächsten Haltepunkt raus, schnell noch den Gegenzug abgelichtet, der auch aus einer Nähmaschine mit angehängtem 050 besteht (eines der drei Nicht-100%-Sonne-Bilder der letzten Tage), und dann zu Fuß durchs Tal zurück zum Viadukt. Der ist ein stählerner Neubau, neben dem man die ersten Felder seines offenbar gesprengten Stahlgittervorgängers hat stehen lassen. Wie der Pont von Avignon ragt das Brückenrudiment in den Abgrund. Am Südkopf des Neubaus ist außen am Viadukt eine Arbeitsbühne montiert, die sich hervorragend als erhöhter Fotostandpunkt eignet. Dröhnend fährt einige Zeit später eine Taucherbrille mit einigen Bmh-Verschnitten, Mitteleinstiegswagen aus DDR-Produktion, recht zügig über das Bauwerk. Die ganze Brücke nebst meiner Arbeitsbühne bebt und schwankt. Hoffentlich kann man da überhaupt ein ruhiges Bild hinbekommen!

Doch noch scharf geworden: Os 4410 poltert über den Viadukt Ivancice.

Nachher im Bahnhof Moravske Branice wird noch ein wenig das Geschehen mit 830, 850 und ihren Beiwagen beobachtet. In der Ruhe liegt die Kraft, wenn der VT-Oldie gemächlich seinen Beiwagen umfährt. Die bereits vor dem Umlaufen in den Triebwagen eingestiegenen Fahrgäste dürfen natürlich sitzen bleiben und laufen mit um. Vorserien-842 002 mit seiner eigentümlichen Front schaut kurz vorbei und nimmt mich dann mit nach Brünn (Tilo ist schon vorher Richtung Cheb und weiter nach Hause gestartet). Brünn ist wie Prag in klein und eigentlich einen eisenbahnlosen Tag für sich wert. Gleich gegenüber vom Bahnhof beginnt die verwinkelte Altstadt, in der unzählige Restauraces mit Freisitzen zum Verweilen einladen. Allerdings gibt´s in der ganzen Innenstadt nur drei Hotels, und die kosten ab 1500 Kronen aufwärts, sodass vor lauter Unterkunft suchen nicht so die rechte Freude an der schönen Stadt aufkommt. Nach einer Mahlzeit und einem Eis beschließe ich schließlich, gegen 21 Uhr nach Breclav weiter zu fahren. Hier kann ich notfalls in den Nachtschnellzug "Bem" mit Kurswagen nach Nordböhmen steigen. Außerdem denke ich mir, dass sich dort im Dreiländereck Tschechien - Slowakei - Österreich vielleicht doch ein Zimmer finden lässt. So verlasse ich Brno mit dem Doppel-EC “Slovenska Strela”/“Antonin Dvorak”, dessen vorderer Zugteil aus ZSR-Neubaugroßraumwagen besteht und im hinteren aus ÖBB-Eurofimas.

Meine Überlegungen waren richtig, denn nach einem kurzen Fußweg finde ich in der Ortsmitte ein Hotel. Für 497 Kronen incl. Snidane beziehe ich gegen 22 Uhr ein realsozialistisch eingerichtetes Einzelzimmer, aber dies sogar mit Badewanne! Das ganze nur 5 Minuten vom Bahnhof entfernt. Eignet sich fast als Basislager für einen Tagestrip nach Wien oder Bratislava... Mit diesen wohlfeilen Überlegungen sinke gegen 23 Uhr müde in die Federn.

Am nächsten Morgen gibt´s Bacon and Eggs zum Frühstück sowie eine EC-Fahrt im ÖBB-Abteilwagen nach Brünn. Die Öschis bauen irgendwie immer noch die bequemsten Wagen der Welt, und dazu nicht nur die unruhigen Großraumwagen. Wer hier 1. Klasse fährt ist selbst schuld! Von Brünn aus begebe ich mich mit einem Bummelzug in das Tal entlang der KBS 260, denn statt 830 & Co. steht heute mal ein wenig Hauptbahn auf dem Plan. Der Zug wimmelt vor Ausflüglern. Scheint ein beliebtes Gebiet zum Wandern und Radeln zu sein. Außerdem ist Tag der Arbeit, und da wird auch in Tschechien zumeist nicht gearbeitet. Bei herrlichem Wetter verbringe ich den Tag im Svitava-Tal südlich von Blansko, erfreue mich an ZSR-350 und ihren illustren EC-Garnituren auf ungarisch, tschechisch und deutsch, fluche über die beschmierten Nahverkehrszüge - nicht einer war sauber! - mache mein erstes Bild eines 560 und überquere bei meiner Wanderung auf einem abenteuerlichen Steg den Fluss. Nach der Rückfahrt nach Brünn verzehre ich in der prunkvollen Bahnhofsrestauration andächtig das wohl letzte Knödelessen dieser Reise. Schade, daran hätte ich mich gewöhnen können.

Im Sviatava-Tal unweit Blansko lassen zahlreiche Ausflügler den von einer ZSR-350 gezogenen MAV-EC "Csardas" auf CD-Gleisen an sich vorüber ziehen.

Von Brünn rolle ich nachmittags mit dem Heckenschnellzug R 612 Brünn - Havlickuv Brod - Kolin - Melnik - Ustí n.L. Strekov - Decin nach Norden. Im Vorstadtbahnhof Brno Kralovo Pole sehe ich dann auch, wo man Alternativen zu den überteuerten Brünner Innenstadthotels finden kann. Naja, nächstes Mal... In Brünn habe ich noch ein Abteil für mich und kann am offenen Fenster die Fahrt über den Viadukt von Dolni Louci genießen. Doch dann füllt sich der Zug, bis wir hinter Havlickuv Brod tatsächlich zu acht im Abteil hocken. Ab Kolín wird´s wieder leerer, und hinter Nymburk habe ich mein Coupé wieder für mich alleine. Durch die langweiligste Gegend Tschechiens, der flachen Region um Melnik herum, braust der Zug mit 120 km/h über die KBS 072 nordwärts und umfährt in einem großen Bogen die goldene Hauptstadt. Hinter Lovosice stoßen wir endlich durch die Porta Bohemica, die böhmischen Pforte, ins immer wieder reizvolle Elbtal. Rechtselbisch rollt unser Schnellzug weiter nach Norden, während fast parallel zu uns auf dem linken Elbufer der D 370 mit seinen holländischen Wagen seine Bahn zieht.

In Decin geht´s auf die andere Elbseite, und ich steige dort in den kurz nach uns ankommenden D 370 nach Amsterdam / Köln. Warum dieser Zug bis Halle offiziell nur zum Einsteigen hält, entzieht sich meiner Kenntnis. Immerhin hat er - auch in der Gegenrichtung bei der Einreise zum Tschechen, wo man aber eigentlich nur aussteigen darf - eine hervorragende Zeitlage und ist zudem zuschlagfrei. Auch der DB-Schaffner hat kein Problem damit, dass ich seinen Zug schon in Dresden und nicht erst in Dortmund wieder verlasse, und so komme ich pünktlich gegen 21 Uhr in Radebeul Ost an - mit einem Sonnenbrand im Nacken, vielen schönen Erlebnissen aus einem ungemein reizvollen Land und nach diversen Knödelessen sicher um einige Kilogramm schwerer als bei der Abreise vor fünf Tagen.

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