Zwei Wochenkarten für 5 Tage
Eine Eisenbahntour durch Tschechien

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Sonntag, 16. Mai 2004: Dresden - Nachtzug ab Plzen

Die Reise beginnt unspektakulär, aber standesgemäß in der "Windbohne", also dem EC "Vindobona" Hamburg - Berlin - Prag - Wien. Auch wenn man diesem Zug zum vergangenen Fahrplanwechsel seines traditionsreichen Namens beraubte, so wird er in Dresden Hbf - wie es sich gehört - nach wie vor als "Vindobona" angesagt.

Die 6-er-Abteile waren leider schon belegt, also ziehen wir uns in den Großraumwagen am Zugschluss zurück. Dort teilen wir dann den gesamten Wagen mit etwa der gleichen Anzahl Fahrgäste, wie es in einem voll besetzten Abteil der Fall gewesen wäre. Zügig geht es durch die südlichen Vororte der Landeshauptstadt, die einschließlich des Folgeabschnitts Heidenau - Pirna über Kilometer hinweg dem entsprechen, was man im Magazin "Der Spiegel" auf Bildern von Ostdeutschland zu sehen bekommt: Abgewickelte Industriebrachen und bröckelnde Fassaden. Wer sich hier aus der anderen Richtung erstmals Dresden nähert, dürfte schon vor der Ankunft Zweifel an dessen Ruf als Barockstadt und dem Beinamen Elbflorenz bekommen.

Ab Pirna wird die Landschaft schöner und, damit man diese auch genießen kann, der Zug langsamer. Mit 70 Sachen bummelt man seit dem Hochwasser im Jahre 2002 durch die pittoreske Felslandschaft der Sächsischen Schweiz. Eine Rollende Landstraße mit drei Lastwagen kommt uns entgegen - seit dem EU-Beitritt Tschechiens am 1. Mai 2004 und der Verkürzung der Kontrollzeiten an der Grenze fahren die Lastwagen wieder mit eigener Kraft über das Erzgebirge. Wie lange die RoLa unter diesen Bedingungen wohl noch Bestand haben wird? Im Grenzbahnhof Bad Schandau hat man rund um das Empfangsgebäude in 1 m Entfernung vom Gebäude einen Bauzaun erreichtet, damit den auf den desolaten Bahnsteigen wartetenden Fahrgästen keine Putz- oder Gesteinsbrocken des äußerlich völlig herunter gekommenen Bauwerks auf den Kopf fallen. Eine Schande für die reiche Bundesrepublik Deutschland und ihre Eisenbahn, wenn der erste Eindruck der aus dem Ausland einreisenden Gäste dieser verkommene Bahnhof ist.

Ab der Staatsgrenze bei Schöna beschleunigt die tschechische Knödelpresse wieder auf 110 km/h. Man muss glauben, das Hochwasser hat metergenau nur auf dem deutschen Streckenabschnitt gewütet. Oder dramatisiert man mit der 70-er-La auf deutschem Gebiet nur die Situation, um mehr Fördergelder abgreifen zu können?

Die Elbbrücke von Decin.

Wir verlassen den namenlosen "Vindobona" im nunmehr fertig gestellten und nicht mehr wieder zu erkennenden Hauptbahnhof von Decin. Sauber, hell und freundlich ist er geworden. Nur der Eisenbahnfreund mag die Urigkeit der alten Anlage vermissen, bei der man niveaugleich über bis zu sechs Gleise zu seinem Zug ging, während dazwischen heftig rangiert wurde und Züge durchfuhren. Gegenüber des Bahnhofes ziehen wir beim Kreditinstitut unseres Vertrauens aus dem Geldomat Tschechische Kronen für die nächsten Tage, um sodann zum Fahrkartenkauf zu schreiten. Die týdenní sit´ova jizdenka, also die Wochenkarte für die ganze CD, wird hier wohl nicht allzu häufig verlangt, denn wir müssen die Schalterangestellten im Kursbuch erst einmal auf das Angebot hinweisen. Anschließend erwerben wir im neu eröffneten rychle obcerstvení namens "McBrk" mit unverkennbaren Anleihen an eine amerikanische Schnellimbisskette, wo wir auch das deutsche Zugpersonal aus dem "Vindobona" bei einer Mahlzeit antreffen, noch zwei typisch tschechische Baguettes für die Reise. Der Fairness halber sei aber gesagt, dass im Obergeschoss von "McBrk" noch ein richtiges Restaurant eingerichtet ist.

Ziel unserer Tagesetappe für heute soll der Hauptbahnhof in Pilsen sein, ab wo wir um 20.46 Uhr als einzig getätigte Reisevorbereitung Bettplätze für den Schlafwagen Cheb - Breclav (- Wien) reserviert haben. Wegen der wechselhaften Wetterlage wollten wir damit für den Folgetag zweigleisig fahren: Bei schönem Wetter auf Eisenbahntour durch Mähren gehen, bei schlechtem Wetter - etwa so wie heute - von Breclav aus einen Tagesausflug nach Bratislava oder Wien machen.

Doch nun rollen wir erst einmal in einem 460-Nahverkehrszug auf vollständig sanierter Strecke nach Ustí. Dessen tief brummenden Fahrgeräusche der Elektromotoren erinnern mich immer ein wenig an die Altbautriebwagen der Hamburger oder Berliner S-Bahn. In Ustí hl.n. steht der Anschlusszug gleich gegenüber und setzt sich auch alsbald in Bewegung. Er soll uns in den folgenden Stunden durch die vom Bergbau gezeichneten Mondlandschaften südlich des Erzgebirges über Teplice, Most und Chomutov nach Kadan bringen, von wo aus wir ein wenig auf den dortigen Nebenbahnen bummeln wollen. An diesem Sonntag Nachmittag ist der "Vsacan", wie unser Schnellzug heißt, gut besetzt, und obwohl bei unserem Einsteigen schon 8 ˝ Stunden seit seiner Abfahrt im slowakischen Zilina unterwegs, minutiös pünktlich. Hier, abseits der europäischen Korridore, gibt es dann auch wieder die typischen Eindrücke der CD, die diese Eisenbahn irgendwie so liebenswert und interessant macht. Die Aufsichten an den Bahnhöfen, das Ein- und Ausladen von Expressgut am Gepäckwagen, das geschäftige Durcheinander auf den Bahnhöfen, wo das Volk selbstverständlich kreuz und quer über die Gleise rennt, die Güterwagen in den unzähligen Gleisanschlüssen, und natürlich das da-dang, da-dang der Schienenstöße - wohl das Geräusch der Eisenbahn schlechthin, doch in Deutschland längst verstummt.

In Kadan wird die 163 gegen eine Finsterdreinblickende namens 749 getauscht, die den Schnellzug nun durch das noch fahrleitungslose Egertal nach Karlsbad schleppen will. Nach den jüngsten Schilderungen von Markus Lohneisen zu den Fortschritten der Elektrifizierung dürfte es mit der aus Taigatrommel-Zeiten bekannten Idylle weitgehend vorüber sein. Um diese schönen Erinnerungen nicht zu zerstören, steigen wir auf dem ziemlich herunter gekommenen Bahnhof fernab der namensgebenden Stadt in einen Schienenbus um, immerhin eines der wenigen noch weiß-gelb-blauen Exemplare. Nebenan stehen zwei 740 der Viamont mit einem Schotterzug, aber auch wir stehen, trotz längst überschrittener Abfahrtszeit. Brav wird also der 15 min verspätete Schnellzug aus Cheb abgewartet, und erst als auch die umsteigende Großmutter mit ihrer Reisetasche an Bord ist, brummen wir los.

Der sagenhafte Bahnknotenpunkt Vilemov mit zwei Brotbüchsen.

Im Gegensatz zur industriell geprägten Hauptbahn von Ustí ist die Nebenbahn 164 hinüber nach Kastice überraschend reizvoll. Über Kadan mesto, dem Stadtbahnhof, rollen wir entlang der Eger, überqueren das tief eingschnittene Flusstal auf einer Stahlbrücke und gewinnen immer weiter an Höhe, während hinter uns die Höhenzüge des Erzgebirges langsam zurück bleiben. An jedem Bahnhof steigen Fahrgäste aus, bis wir am Abzweigbahnhof Vilémov schließlich alleine mit dem Personal in der Brotbüchse sitzen. Zwei Fahrgäste - zwei Personale. Eine Betreuung wie auf einem Kreuzfahrtschiff. Das kannte ich bislang nur von sächsischen Nebenbahnen der 1990-er Jahre, die dann aber auch alsbald eingestellt wurden, nicht aber von der CD. Die Schaffnerin fragt nach unserem Ziel, welches der Endbahnhof Kadansky Rohozec sein soll. So kann an den Unterwegsstationen durchgefahren werden, wodurch wir die Verspätung aus Kadan weiter reduzieren.

Während der Schienenbus nur für uns auf windungsreicher Trasse durch die Löwenzahnwiesen rumpelt und dabei die Gartenbahn-mäßige Ortsdurchfahrt von Radonice passiert (hier müsste man nochmal zum Knipsen hin), kommt auch immer mehr die Sonne heraus. Schließlich erreichen wir den Bahnhof Kadanský Rohozec, der dreimal täglich Besuch von Zügen erhält: Mitten in einer üppig blühenden Löwenzahn- und Pusteblumenwiese endet unser Os 17623. Daneben steht ein kleines, verlassenes Empfangsgebäude, aber mit Ausnahme eines offenbar aufgegebenen Steinbruchs sind weit und breit keinerlei Anzeichen menschlicher Zivilisation erkennbar. Vielmehr als die dürftige Besetzung des Zuges wundert uns nun die Tatsache, dass hierhin überhaupt noch Züge verkehren. Ein Erinnerungsfoto, leider mit Baumschatten auf dem Triebwagen, wird geschossen, dann fahren wir zurück. Unterwegs steigen dann sogar noch zwei Fahrgäste zu. Am Abzweigbahnhof Vilémov verlassen wir den Zug. In Vilémov gibt es alles, was ein kleiner Landbahnhof in der Vorstellung eines Modellbahners braucht: Empfangsgebäude mit Fahrkartenverkauf und Warteraum, eine Ladestraße mit Begrenzungslehre und Gleiswaage, einen eigenen Weichenwärter und sogar einen einständigen Lokschuppen. Nur Fahrgäste sind Mangelware. Die bringt erst der aus Kastice nahende Schienenbus mit, welcher sich hier mit unserem Zug aus Kadanský Rohozec zur gemeinsamen Fahrt nach Kadan vereinigt. Gut eine halbe Stunde später kommt der Gegenzug aus Kadan, der weiter nach Kaštice und Vroutek an der Strecke 160 nach Pilsen fahren soll. Die drei Fahrgäste, die in Vilémov dem Schienenbus entsteigen, waren dann auch die letzten, denn bei der Weiterfahrt sind wir wieder mit dem Personal alleine im Zug. Zwar werden unterwegs noch ein paar Ausflügler eingesammelt, einen besonders zukunftsträchtigen Eindruck macht das aber alles nicht. In Kaštice fährt man aus Richtung Kadan erst einmal hinter dem Bahnhof vorbei auf die freie Strecke Richtung Zatec, bevor der Lokführer durch den Fahrgastraum hindurch zum rückwärtigen Führerstand wechselt und auf der KBS 160 an den Bahnsteig zurücksetzt. Dort wartete der Os 7606 auf Kreuzung, welcher aus einer Pilsener 830-Garnitur gebildet wurde. Das Kursbuch verkündet, dass dieser vier Stunden lange Zuglauf bis Most führt. Hmmm, ein 830 in Most...

Da Kaštice offenbar nur aus dem Bahnhof ohne viel Drumherum besteht, fahren wir zum Zwecke der Nahrungsaufnahme auf der Hauptbahn weiter bis Podborany, in Deutschland einer Art Unterzentrum. Die ersehnte Gaststätte im Bahnhof gibt´s dort zwar auch nicht, dafür aber einen Kiosk mit Waffeln und unsagbar künstlich schmeckendem Kugeleis. Der handgeklebte Wagenstandsanzeiger in Podborany bietet den für Fuzzys ausgesprochen nützlichen Service, dass nicht nur die Zugbildung angegeben wird, sondern darüber hinaus auch die Baureihen der eingesetzten Triebfahrzeuge. In den 30 min Zeit bis zur Abfahrt unseres Schnellzuges nach Pilsen wollen wir daher den Gegenzug R 1492 Plzen - Ustí am Ortsrand ablichten, welcher laut Wagenstandsanzeiger mit 749 bespannt sein soll. Leider verkriecht sich die Sonne, und nachdem der Zug nach 5 min Verspätung noch immer nicht erscheint, treten wir den Weg zurück zum Bahnhof an, um dort nicht noch unseren Zug nach Pilsen zu verpassen. Tilo bewaffnet sich noch mit einer Kugel Kunstspeiseeis, dann kommt der Zug. Ebendieser Zug, der Rychlik 993 Chomutov - Plzen ist mäßig besetzt, so dass wir im Steuerwagen des 743-Gespannes noch eine Vierersitzgruppe ergattern. Am Zugschluss schlingert eine Brotbüchsengarnitur mit, die auch bis Pilsen angehängt bleibt. Unterwegs erblicken wir insbesondere im Mittelabschnitt der KBS 160 rund um Mladotice eine Fülle von Motiven in ausgesprochen idyllischer Landschaft. Brücken, Tunnel, ein romantisches Flusstal. In Verbindung mit den hier zahlreich eingesetzten Altbautriebwagen - auch der entgegen kommende Os 7608 ist wieder ein 830 - eigentlich ein lohnendes Ziel für einen stressfreien Tagesausflug am Busen der Natur. Mit diesen Gedanken kommen wir bei inzwischen wieder völlig zugezogenem Himmel in Pilsen an, decken uns mit Krokodil-Baguettes, Waffeln und Getränken für die folgende Nachtfahrt ein und besteigen dann den Schnellzug 267 Regensburg - Plzen - Prag mit Schlaf- und Liegekurswagen Cheb - Plzen - Praha - Prerov - Breclav - Wien.

Der Schlafwagen ist leider nicht der in der CD-Werbung abgebildete Reko-Schlafwagen mit Klimaanlage und Dusche, sondern ein betagtes Modell aus volkseigener DDR-Produktion. Wir sind die einzigen Kunden, der nachfolgende, weiß-blaue ÖBB-Liegewagen (ÖBB-Wagen kommen damit also nach Cheb!) scheint augenscheinlich sogar völlig leer zu sein. Erschreckend! Erst die leeren Schienenbusse, dann dies hier... Möge dies nicht symtomatisch sein für die CD im Jahre 2004.

Wir haben Bettplätze im Double bis Breclav gebucht, dem letzten Bahnhof vor der Grenze nach Österreich. Preis pro Bett: 224 Kronen, bei Kauf in Deutschland 7 Euro, also sogar billiger als in Tschechien. Richtig teuer wird´s aber, wenn man den Schlafwagen zum eigentlichen Zweck seines Daseins nutzen möchte, nämlich bis Wien durchzufahren: Dann versechsfacht sich der Aufpreis auf 1.440 Kronen oder 45 Euro! Vielleicht auch ein Grund für die gähnende Leere in den Wagen, denn wer kennt als Normalbürger schon diese Kniffe wie etwa das Lösen der Bettkarte bis Breclav und dann die letzten 80 km im Sitzwagen zurück zu legen? Wie auch immer: wir vertilgen das Krokodil und ein paar Waffeln, gähnen mit der Leere des Wagens um die Wette und rollen durch die Nacht Mähren entgegen.

Montag, 17. Mai 2004: Nachtzug an Breclav - Brno

Die Nachtfahrt verläuft ruhig. Insgesamt dreimal werden die Kurswagen umrangiert: je einmal in Pilsen, in Prag und in Prerov, z.T. mit über einstündigen Abstellzeiten irgendwo im Gleisvorfeld des Bahnhofes. Beim Aufwachen hängen wir morgens am illustren Schnellzug "Chopin" Warszawa - Wien mit polnischen, tschechischen und österreichischen Wagen sowie einem russischen Kurswagen aus Moskau. Ich hole beim Schlafwagenbetreuer unsere Fahrkarten zurück und lege sie zunächst auf das Bett, um dann für je 100 Kronen zwei Frühstücksboxen mit Brot, Croissant, Marmelade, Minisalami, Waffel, O-Saft-Päckchen und einem Plastikbesteck zu erwerben, dazu gibt´s frisch gebrühten Tee. Dabei überschwemmen wir unser Abteil mit einer Unmenge an Wohlstandsmüll. Um dessen Entsorgung müssen sich dann die Österreicher kümmern, denn wir steigen um 5.45 in Breclav aus.

Der Autor dieses Artikels auf der schweißtreibenden Suche nach dem goldenen Standpunkt. Der erste Kilometer ist geschafft! Doch er fand ihn vor lauter Bäumen nicht. Diesmal jedenfalls nicht...

Das Wetter ist mehr als bescheiden. Weder der bunte "Chopin", vor den sich gerade ein ÖBB-Taurus setzt, noch der aus slowakischen Wagen gebildete Schnellzug 235 "Amicus" nach Budapest oder die im Depo abgestellten Hummeln können unseren Fuzzyinstinkt wecken, sodass wir beschließen, auf das Alternativprogramm zurückzugreifen, bei der die Eisenbahn ausschließlich Mittel zum Zweck sein wird: Einen Städtetrip nach Wien. Die Fahrkarte Breclav - Wien und zurück mit Rail plus soll nach Meinung der Schalterangestellten umgerechnet über 20 Euro kosten. Das wäre immerhin soviel wie die Hälfte unserer 1.-Klasse-Wochenkarte für ganz Tschechien. Schließlich kitzeln wir noch einen Euregio-Tarif (oder so ähnlich) aus ihr heraus, der dann "nur" noch 18,60 Euro kostet. Mit dem guten Gefühl, der Fahrkartenausgabe Breclav dennoch gerade zu einem gewaltigen Umsatzsprung verholfen zu haben, besteigen wir den auf Gleis 1 eingefahrenen Doppelstock-Regionalzug der ÖBB, Abfahrt 6.31 Uhr.

Abgesehen davon, dass wir mit unseren Rucksäcken in den engen Dostowagen ziemlich überflüssig sind, gestaltet sich die Fahrt in den laufruhigen Wagen sehr angenehm. Die fünf Doppelstockwagen, in Breclav fast leer abgefahren, füllen sich bis Wien nach und nach bis auf die beiden Plätze, auf denen wir unsere Rucksäcke abgestellt haben. Im unterirdischen Bahnhof Wien Mitte, wenige Fußminuten vom Stadtzentrum entfernt, steigen wir aus, verstauen im düsteren Labyrinth aus Tunnelbahnhof und Einkaufszentum der 1970-er Jahre unser Gepäck in einem Schließfach und machen bei noch immer bedecktem Himmel die Donaumetropole unsicher. Wir laufen die Stadt hinauf bis zum Westbahnhof, machen den kulturellen Pflichtpunkten wie Stephansdom oder Hofburg unsere Aufwartung und verspeisen zum Mittagessen selbstverständlich ein Wiener Schnitzel. An einem Brunnen füttern wir mit dem trockenen Croissant aus dem Zug allen Verbotsschildern zum trotz die Enten - so lange, bis sie uns schließlich aus der Hand fressen - und besuchen, dem eigentlichen Zweck unserer Reise entsprechend, im Looshaus die zufällig stattfindende Ausstellung "Czech in! Aktuelles tschechisches Design" (sogar der Tatra-Straßenbahnwagen wurde da vorgestellt). Am Nachmittag treten wir mit runden Füßen die Fahrt zurück nach Tschechien an.

Um 17 Uhr stehen wir wieder in Breclav, wo wir im einzigen Sonnenloch des Tages eine Laminatka mit ihrem Güterzug ablichten. Im Depo hat sich neben den toten Hummeln 770/771 und einigen E-Loks auch ein 830 zur Ruhe begeben. Ob der die Touri-Züge auf der KBS 247 in die Lednicer Gärten fahren soll? Eigentlich ist hier doch "Plandiesel" mit einem M 131 vorgesehen. Wir steigen jedenfalls in einen Bummelzug Ri. Hodonin ein, von wo aus wir einen Abstecher auf die Nebenbahnen zwischen den Strecken Breclav - Prerov (KBS 330) und Breclac - Brünn (KBS 250) unternehmen wollen. Schon sitzen wir im Zug, als mir auffällt, dass ich meine Wochenkarte gar nicht im Geldbeutel stecken habe. Ruckzuck wieder ausgestiegen, der Zug fährt ohne uns ab, aber trotz Suche in Taschen und Rucksack bleibt die Karte unauffindbar. Unschwer zu erraten, wo sich diese wohl befindet - in der morgendlichen Hektik heute früh im Schlafwagen zwischen Fahrkarten abholen, Frühstücken, Packen und Aussteigen ist sie irgendwo untergegangen, nachdem ich sie nach dem Abholen nur auf´s Bett gelegt habe. Ausgesprochen ärgerlich, aber - was hilft´s? - nun einmal nicht zu ändern. Nach kurzer Überlegung beschließe ich, für den Rest der Woche eine neue Karte zu kaufen. Die wird dann immerhin standesgemäß eingeweiht, nämlich im Euro-City-Kurzzug "Johann Gregor Mendel" mit einem ÖBB-Wagen und vier tschechischen, auf der Fahrt nach Brünn. Bei dem aufklarenden Himmel verraucht mein Ärger über meine eigene Dummheit langsam.

In Brünn, so lehrt es die Erfahrung aus voran gegangenen Reisen, sollte man sich tunlichst nicht im Stadtzentrum nach Unterkünften umtun, es sei denn, man möchte gerne viel Geld dafür ausgeben. Günstigere, wenngleich vielleicht nicht ganz so luxuriöse Hotels, gibt es im Vorort Královo Pole, etwa 15 Zugminuten vom Zentrum entfernt. Dorthin bringt uns der Os 4930, bespannt mit einer der einzigen beiden bei der CD verbliebenen Maschinen der Baureihe 263 - die übrigen Loks erhielt 1993 die ZSR. Das Plattenbau-Hotel unweit des Bahnhofes, welches bereits auf Werbetafeln in Brno hl.n. auf sich aufmerksam machte, ist trotz seiner ungeputzen Scheiben leider ausgebucht. Die freundliche Rezeptionistin empfiehlt uns aber ein weiteres Hotel namens "Imos" in der Nähe. Man ist so nett und meldet uns dort an. Was nicht klappt ist der Erwerb des in der Lobby ausgestellten Puzzles vom kleinen Maulwurf für meine Freundin, denn die hat sich gewünscht, dass ich ihr etwas vom "krtek" aus Tschechien mitbringe. Das ausgestellte Exemplar ist leider nur zum Spielen für Kinder der Hotelgäste gedacht und daher unverkäuflich. Immerhin kann ich bei dem Reservierungs- und Kaufdialogen meine geballten Kenntnisse des Tschechisch-Volkshochschulkurses anwenden.

Ein Tatra-Gelenkwagen "K4" auf dem Bahnhofsvorplatz von Kralovo Pole.

Und tatsächlich - nachdem wir zunächst ein falsches Hotel namens "Imps" in der gleichen Straße ansteuern (müssen die allen Hotels fast den gleichen Namen geben?), ist im Hotel "Imos", insgesamt etwa 10 Fußminuten entfernt, ein Zimmer für uns reserviert. Das teilsanierte Gebäude ist ein Konglomerat aus Bürohaus in der 1. bis 3. Etage und Hotel im Erdgeschoss sowie der 4. bis 7. Etage. Unser Zimmer liegt im fünften Stock nach hinten heraus, von wo aus man einen schönen Blick bis hinein nach Brünn City genießt. Lässt man seinen Blick jedoch nicht ganz so weit schweifen, so erblickt man unmittelbar hinter dem Hotel das Gelände eines Bus- und Straßenbahnbetriebshofes, wo jetzt, gegen 20 Uhr, nahezu im Minutenabstand Karosa-Busse und Tatra-Straßenbahnen einrücken, rangieren, auf ihre Nachtposition gefahren werden usw.. Das ist interessant zu beobachten, geht aber nicht ganz lautlos über die Bühne. Wir gehen erst einmal in der Hotelgaststätte essen, es gibt Hühnerbrust mit den typischen runden tschechischen Kroketten. Als wir abends ins Bett fallen, ist der Rangierbetrieb von Bus und Strabse weitgehend beendet, und ruhig liegt der Betriebshof unter unserem Fenster in der Nacht.

Dienstag, 18. Mai 2004: Brno - Otrokovice

Geweckt werde ich irgendwann ganz frühmorgens von einem warmlaufenden Dieselmotor. Vielleicht waren es auch zwei oder drei oder noch mehr, ich weiß es nicht, und Tilo kann ich nicht fragen, denn der schläft den Schlaf der Gerechten und hat nichts gehört. Jedenfalls beginnt für Tatra und Karosa zu ziemlich früher Stunde der Ernst des neuen Tages, und der heißt nun einmal Berufsverkehr. Also rasch das Fenster geschlossen und noch eine Runde weiter geschlafen. Immerhin war dabei am Himmel kein Wölkchen zu erkennen. Nach dem Frühsücksbuffet wandern wir kurz nach 7 Uhr hinab zum Bahnhof Královo Pole und lichten auf dem Bahnhofsvorplatz bei tatsächlich strahlender Sonne ein paar der Tatra-Gelenkstraßenbahnen ab, die Tilo fachkundig als den Typ K4 ausmacht. Dabei handelt es sich um eine Art sechsachsigen Gelenktriebwagen auf Basis des T4, wie er z.B. aus Magdeburg, Leipzig oder Dresden bekannt ist.

Wir beschließen, die zweigleisige, nicht elektrifizierte Hauptbahn 340 von Brno Richtung Vesilí nad Moravou und slowakischer Grenze fotografisch zu bearbeiten. Die ist uns schon auf einer früheren Reise angenehm aufgefallen und dürfte nach der Elektrifizierung des Egertals die letzte zweigleisige Strecke ohne Fahrdraht in Tschechien sein. Leider sind wir nicht mehr ganz so streckenkundig, wo die wirklich schönen Stellen sind. So springen wir in Slavkov aus dem Zug, wo wir uns gute Motive erhoffen. So gut, dass wir gleich das direkt gegenüber des Bahnhofes errichtete "Hotel Soult" beziehen, gefällt es uns aber doch nicht. In der einen Richtung flache Felder, und die in Fahrtrichtung voraus erblickten Hügel entpuppen sich bei genauerer Inaugenscheinnahme als profaner Einschnitt, in dem die Bahn gemeinsam mit einer vierspurigen Schnellstraße verläuft. So machen wir mehr oder weniger Notbilder mit den alten Formsignalen. Vielleicht hätte man sich lieber das berühmte Schloss in Slavkov angucken sollen, denn das, so stellen wir später fest, liegt auch nur 15 min vom Bahnhof entfernt.

Dererlei Überlegungen sind gegen 12 Uhr ohnehin obsolet: Der gerade noch strahend blaue Himmel zieht sich im Rychlik-Tempo innerhalb von nur einer Stunde vollständig zu. Nicht nur die Mittags-Quellwolken kommen, nein, es ist rundherum grau. So beschließen wir bei einem Glas Kofola (Havels Rache für Coca-Cola, siehe auch www.kofola.cz) aus der kleinen Bahnhofskaschemme leicht gefrustet einen Fahr-Nachmittag einzulegen und besteigen den nächstbesten Eilzug ostwärts. Immerhin wird unsere Kenntnis über die schönen Stellen der KBS 340, die sich bei Brankovice befinden, aufgefrischt. Vielleicht kommt man ja nochmal hierher. Auch die anschließende Strecke 341 östlich von Uherský Brod, deren Schleifenbildung bei Pitin wir vor drei Jahren nur aus dem SEV-Karosa genießen konnten, wird auf frisch sanierter Strecke nun per Zug abgefahren. Auf weiten Teilen begleitet uns die üppig behängte Telegrafenleitung - ein auch bei der CD inzwischen recht rarer Anblick. Daneben existiert eine bunte Fahrzeugvielfalt aus Brotbüchsen, Taucherbrillen, Särgen und einer in Uherský Brod rangierenden 742, doch kreuzen wir unterwegs auch mit einem Gespann aus einem 850 und zwei der passenden runden Beiwagen 050.

Kurz vor Bohuslavice verschwindet Tilo auf der Zugtoilette, dann erreichen wir den Bahnhof. Der Lokführer stellt seinen Triebwagen und er selbst steigt aus. Auch der Schaffner verlässt den Zug in Richtung Bahnhofsvorplatz. Ich blicke aus dem Fenster, woraufhin der Lokführer mit dem Schaffner diskutiert und in meine Richtung zeigt. Eilig kommt der Schaffner zurück, also, ab hier "Autobus do stanice Bylnice". Vielen Dank für die prompte Information. Zum Glück ist Tilo mit seiner Sitzung gerade fertig geworden, als ich ihm vom Thron trommeln will. Also raus aus dem Zug und rein in den Bus. Später stellt sich dann heraus, dass der Schaffner, der uns schon vor einer Stunde irgendwo bei Vesilí kontrolliert hat, wegen unserer Netzkarten nicht wusste, dass wir so weit fahren und uns deshalb nicht früher über den SEV informierte.

Der Karosa mit seinen 5 Fahrgäste zzgl. Schaffner fährt wie der Henker. Offenbar ist es der gleiche wildgewordene Fahrer wie von vor zwei Jahren. Der Weg führt zunächst quer über einen Bauernhof, dann durch ein geöffnetes Wegestor auf einen gepflasterten Feldweg und mitten zwischen den Äckern hindurch zum nächsten Ort. In Bylnice verlassen wir den Bus und sind froh, wieder festen Boden unter den Füßen zu haben. Der Schaffner versucht sich in Wiedergutmachung. Höchstselbst geleitet er uns fast bis zu unserem Zug, einem der beiden in Bylnice stehenden Schienenbusse. Na, immerhin ist der wohl unvermeidliche Punkt "SEV" nun abgearbeitet, denn es verging bei unseren mehrtägigen Eisenbahnreisen in diesem Land nicht eine Tour, bei der wir nicht irgendwann einmal in den Bus umsteigen mussten. Die Spanne der ersetzten Züge reichte dabei vom Bummelzug im Hinterland bis zum Nachtschnellzug mit internationalen Kurswagen, ersetzt durch einen Konvoi aus 5 Karosas.

Die Sonne hat sich noch immer nicht blicken lassen, und so fahren wir die kurven- und tunnelreiche KBS 283 nach Horní Lídec in die Weißkarparten hinauf und von dort aus durch die Ausläufer der Beskiden auf der Hauptbahn 280 über Valašské Meziríci (der Zungenbrecher unter den tschechischen Städten) nach Hranice na Morave wieder hinunter. Wirklich eine nette Strecke und heute auch mit anständigem Güterverkehr, Altbau-E-Loks der 180-er-Familie und vor Eilzügen bis Hranice durchlaufenden Slowaken-Knödelpressen, aber die rechte Lust mag bei der sinnlosen Fahrerei nicht aufkommen. In Hranice n.M. steigen wir in den Schnellzug Richtung Prerov. Inzwischen ist es fast 19 Uhr, und in Prerov, einer Stadt mit immerhin rund 50.000 Einwohnern, wollen wir uns eine Nachtstatt suchen. Von Prerov, im Schnittpunkt dreier Magistralen gelegen, hätten wir für den nächsten Tag gute Startbebingungen. Entweder zum Knipsen ins Umland oder bei Nicht-Sonne für eine Reisetour in Richtung Altvatergebirge bzw. den schlesischen Teil von Tschechien. Irgendwie bin ich immer noch auf der Suche nach klassischer preußischer Bahnarchitektur bei der CD. Die inzwischen abgebauten Reichsbahn-Formsignale in Tremesna, wo die Schmalspurbahn fährt, und der Bahnhof von Cesky Tešin können es ja nicht allein gewesen sein, was an Backstein und Löffelformsignalen südlich der polnisch-tschechischen Grenze überlebt hat.

Bei der Einfahrt nach Prerov sehen wir am Flussufer schon das erste Hotel. Zwar ein grauer Kasten aus sozialistischen Zeiten, aber wir wollen ja keine goldenen Wasserhähne. Das im Reiseführer angepriesene und preiswerte "Grand Hotel" gegenüber dem Bahnhof ist abgewickelt, und so wandern wir durch graue Wohngebiete in Richtung Fluss, wenn man die träge dahin fließende Brühe so bezeichnen darf. Beim Näherkommen macht der düstere Plattenbau jedoch einen zunehmend ungepflegten Eindruck, auch wundern wir uns über die an einigen Fenstern angebrachten Satellitenschüsseln und z.T. zerbrochene Scheiben. Die Lösung offenbart schließlich ein Zettel in der Eingangstür: Das Gebäude dient als "Unterkunft für Militärangehörige, es ist kein Hotel mehr". Leicht angesäuert begeben wir uns in Richtung Stadtzentrum. Doch scheint es in der ganzen Stadt keinerlei Pensionen oder Hotels zu geben. Nicht einmal das obligatorische Hotel am Marktplatz, zu vorgerückter Stunde gerne auch zu etwas höheren Preisen, gibt es in Prerov. Auch auf dem ausgehängten Stadtplan sind zwar Gaststätten, Postämter und sogar Spielplätze eingezeichnet, aber keine Pensionen oder Hotels. Also treten wir unverrichteter Dinge den Weg zurück Richtung Bahnhof an, um als letzte Lösung dem Nachtzug bis Breclav entgegen zu fahren - auch auf die Gefahr hin, am nächsten Morgen nicht mehr in Mähren, sondern mindestens wieder in Prag zu sein.

Abendleben in Otrokovice: Es gibt die große Auswahl zwischen Billard und Zügefuzzen.

So besteigen wir um 20.10 Uhr den Schnellzug 810, der auf der bestens ausgebauten KBS 330 auch gleich richtig losbraust. Seit dem Jahre 2000 sank die Fahrzeit hier um stolze 50%! Bei der Einfahrt nach Otrokovice, dem zweiten Haltebahnhof nach Prerov, erblicken wir aber links der Strecke wieder ein Hotel. Wer wagt, gewinnt, also raus, zudem wir mit dem nachfolgenden Bummelzug immer noch rechtzeitig in Breclav wären oder gleich hier auf den Nachtzug warten. Wie verlassen den Bahnhof und sehen, dass hinter einer Grünanlage unmittelbar gegenüber des Bahnhofes ein weiteres kleines Hotel seine Unterkünfte anbietet. Die Rezeption befindet sich unten im offenbar jüngst sanierten Haus in einer Kneipe, wo im Nebenraum bei brüllend lauter Musik einige Jugendliche versuchen, mit langen Stangen bunte Kugeln in den Löchern einer grünen Filzplatte zu versenken. Die Verständigung auf Tschechisch klappt immerhin so gut, dass wir ein gepflegtes und leises Doppelzimmer in der ersten Etage erhalten - Preis zusammen faire 500 Kronen. So nimmt der Tag zu später Stunde doch noch ein gutes Ende. Während Tilo sich unten in der Kneipe an seinem Pivo festhält, versuche ich im Bahnhof mein Glück mit einer Nachtaufnahme des dieselbespannten Expresszuges 521 nach Zlín - eines von etwa 5 Bildern an diesem Tag. Nachdem ich auf dem Rückweg zum Hotel beinahe mit einer aus der Kneipe torkelnden Schnapsleiche kollidiert wäre, geht es gegen 22.30 Uhr in die Federn.

Mittwoch, 19. Mai 2004: Otrokovice - Nachtzug ab Breclav

Nach bewährten Muster stellen wir den Wecker auf halb sieben Uhr. Der Blick aus dem Fenster entscheidet, ob wir noch ein Stündchen weiterschlafen oder zu neuen Taten aufbrechen. Und siehe da: Über der Grünanlage vor unserem Fenster stahlt die Sonne von einem makellos blauen Himmel herab. Also: Attacke! Ziel soll nun noch einmal die KBS 340/341 sein, die wir wegen des gestrigen Wetterumschwungs nicht mehr bearbeiten konnten. Auf die 341 ist dies immerhin schon der dritte Anlauf innerhalb von drei Jahren.

Unten in der Kneipe ist selbst früh um 7 Uhr schon Betrieb, die örtliche Trinkergilde hält sich an einer Hopfenkaltschale fest. Die Billardspieler von gestern Abend sind allerdings noch nicht aktiv. Schnell am Bahnhof mit Krokodilen und Getränken eingedeckt. Schon rollt pünktlich um 7.59 Uhr der 150-(?)bespannte Schnellzug 920 in den Bahnhof ein. Er führt einige der tschechischen Interregio-Wagen in weiß-blau mit, wie sie in mährischen Expresszügen eingesetzt werden. Diese besitzen, ähnlich wie die DB-IR-Wagen, im Innenraum an den Kopfenden geschlossene Abteile. Im Mittelbereich besitzen sie, ebenfalls an das DB-Gegenstück angelehnt, kleine Großräume mit 2x5 Plätzen, welche aber zum Gang hin mit Abteiltüren abgeschlossen sind, de facto also aus zwei 5-er-Abteilen bestehen. Klappsitze im Seitengang ergänzen das Sitzplatzangebot.

Wir beziehen ein Abteil im 1.-Klasse-Wagen am Zugschluss. Dessen Modernisierung beschränkte sich neben einer kleinen Innenraumkosmetik mit neuen Sitzpolstern und dicken Mittelarmlehnen aber offenbar primär darauf, die Übersetzfenster gegen Klappfenster auszutauschen, sodass man nun nicht mehr die Rübe aus dem Fenster strecken kann. Das kann man gut finden, muss es aber nicht.

Ab dem Bahnhof mit dem wohl längsten Bahnhofsnamen Tschechiens, Staré Mesto u Uherského Hradište (28 Buchstaben), ist wieder Taucherbrille angesagt. Die nun vor unserem Zug arbeitende, knallrote 754 066 ist offenbar so etwas wie die Traditionsbrille des DKV Valašské Meziríci, denn sie steht prächtig im Pflegezustand und schämt sich auch nicht ihres kleinen CSD-Schildes an den Seitenwänden. Wir verlassen die Hauptstrecke 330 und erreichen nach einem Halt in Uherské Hradište in Kunovice wieder die von Brünn kommende Dieselhauptbahn.

Pitin: Ein Dorf mit vielfältigen Fotomöglichkeiten.

In Újezdec u Luhacovic biegt der Schnellzug auf die Nebenbahn 346 in das berühmte Kurbad Luhacovice ab. Zwar wäre die rote Brille mit ihrem bunten Schnellzug auf der Nebenbahn durchaus ein interessantes Thema gewesen, aber das haben wir vor zwei Jahren schon bearbeitet. Da war der Schnellzug allerdings nicht der Interregio-Wagen wegen bunt, sondern wegen Graffity. Also steigen wir um in die Brotbüchse, um nach Pitin zu fahren. Dort erklimmt die Strecke 341 mittels zweier 180°-Kurven die ersten Höhenzüge der Weißkarparten, garniert mit der bereits erwähnten Telegrafenleitung. Der Zug hält zunächst im Haltepunkt Pitin zastavka, selbstverständlich personell besetzt mit Fahrkartenschalter. Dann umkreist er in einer weiten Schleife den Ort, um schließlich oberhalb von Pitin, nun in die entgegen gesetzte Richtung fahrend, hinter der Dorfkirche wieder aufzutauchen. Hinter dem Berg wendet sich die Strecke, vom Ort aus aber nicht mehr sichtbar, dann wieder ostwärts und durchquert den als Halt aufgelassenen, nur als Blockstelle noch besetzten Bahnhof von Pitin, fernab der Ortschaft gelegen. Wir laufen ein Stück in Richtung der großen Talkehre.

In den Gärten ist die Dorfbevölkerung mit dem grünen Daumen eifrig dabei, Unkraut zu zupfen oder sich um das junge Gemüse zu kümmern. Schließlich erreichen wir einen kleinen Abhang, von wo aus man die gesamte Strecke recht gut im Überblick hat. Dieser Hang ist in kleine, jedoch augenscheinlich unbewirtschaftete Parzellen unterteilt, jeweils umgeben von einem morschen Holzzaun. Ein lautes Krachen hinter mir verrät, das einer dieser Zäune Tilos Belastungstest nicht gewachsen ist. Der Klügere gibt nach... Das Krachen ist auch dem Großvater, welcher oben am Hang in seinem Kleingarten beschäftigt ist, nicht verborgen geblieben, und er kommt neugierig aus seinem Gartenhäuschen. Doch setzen wir uns mit unschuldigen Gesichtern ins Gras, und nachdem 5 min nicht Weiteres passiert, verliert der alte Mann irgendwann das Interesse an uns. Dafür treten nun am Himmel die ersten Quellwolken auf den Plan.

Pitin: Eine Etage höher kann man die Züge nochmal beobachten.
Als nächsten Zug kündigt das Kursbuch den Schnellzug von Brno nach Vesilí n.M. an, der von dort aus als Personenzug bis zum Grenzbahnhof Vlárský prusmyk weiterfährt und damit als Os 4337 auch in Pitin vorbei kommt. Nach der Sichtung des bei der gestrigen Rundfahrt am Nachmittag mit uns kreuzenden 850 könnte dies die Gegenleistung des Triebwagens sein. Und tatsächlich ist bereits lange, bevor das Gespann in Sicht kommt, das Röhren des 850 im Tal zu hören. Der altertümliche Triebwagen erzeugt einmal mehr Krach als Leistung und hat mit seinen beiden Beiwagen mächtig zu kämpfen. Unter der akustisch eindrucksvollen Beschallung des gesamten Tales zieht er unter unserem Fotohang vorüber. Nach einigen Minuten erscheint er dann oberhalb der Kirche und verschwindet erst unseren Blicken, dann unseren Ohren hinter dem Berg. Leider ist der Streckenverlauf oberhalb des Ortes recht zugewachsen, so dass ein klassischer "Zwei-Bahnen-Blick" kaum möglich ist. Das probieren wir dann einige Zeit später von unten mit dem zurück kehrenden Schienenbus aus, der genau in eine Bewuchslücke passt.

Hinter uns frönt sich derweil ein Häuslebauer, der in Schwindel erregender Manier und ohne irgendeine Sicherung auf seinem Dach herumturnt, mit einer mobilen Kreissäge der Bearbeitung überstehender Dachziegel. Die Gaudi eines Absturzes des guten Mannes bleibt uns nicht vergönnt, dafür geben aber die sich schon wieder rapide vermehrenden Wolken stets im rechten Moment die Sonne frei. Nach dem Bild des Schienenbusses auf der oberen Strecke besteht genügend Zeit, von unserem Fotostandpunkt zum Haltepunkt an der unteren Strecke zu gehen und den eben noch abgelichteten Zug zu besteigen.

In Bojkovice endet der Schienenbus, wir steigen zur Weiterfahrt Richtung Brünn ein einen Taucherbrillen-bespannten Eilzug um. Die sich über dem Gebirge sammelnden Wolken lassen in uns den Entschluss reifen, erst einmal wieder ein Stück Richtung Flachland zu fahren, denn da scheint am Himmel weniger Betrieb zu herrschen. Und tatsächlich wird das Wetter besser. In Kyjov ist der Himmel schließlich fast wolkenlos, und wir setzen zwecks Ablichtung des Gegenzuges einen Zug aus. Von Kyjov bis Nemotice wird auf dem Richtungsgleis Brno gebaut, und so können wir analog der Eingeborenen weitgehend gefahrlos auf diesem mit einer Haltscheibe gesperrten Gleis ein Stück aus dem Ort hinaus wandern. Leider ist das Motiv dann doch nicht so dolle und das Licht steht dort genau spitz auf die Lokfront, aber da wir hierbei die einzige Fotowolke des Tages kennen lernen, ist der Verlust nicht so dramatisch. Immerhin haben wir etwas für die körperliche Ertüchtigung getan und rund 4 km Fußmarsch zurück gelegt.

Zurück in Kyjov steht auf dem hinteren Bahnsteig einer der wenigen Züge über die nur Mo-Fr befahrene KBS 257 nach Mutenice bereit. Etwa 10 Fahrgäste warten in dem Schienenbus auf die Abfahrt, doch beschließen wir beim Blick in den nun völlig wolkenfreien Himmel, die Streckenbereisung hinter die Fototour entlang der KBS 340 zurück zu stellen. Kurze Zeit später war dann in der Tschechien-Newsgroup im Internet zu lesen, dass ebendiese KBS 257 noch dieses Jahr eingestellt werden soll. Liegt wahrscheinlich daran, dass wir nicht mitgefahren sind, denn immerhin hätten wir im Os 24309 am 19. Mai 2004 um eine 20-%-ige Nachfragesteigerung gesorgt.

Nemotice: Weite Kurven machen Lust auf Streckenfotos.
Vorbei an der Gleisbaustelle, auf der ein Gleisumbauzug sein anstrengendes Tagwerk verrichtet, fahren wir durch die Steigung in die (fast-)180°-Bögen zwischen Nemotice und Brankovice und steigen oberhalb der Kurven am unbesetzen Haltepunkt Brankovice aus. Aus früheren Zeiten besteht hier sogar noch eine Fußgängerunterführung. In einem Land, in dem jeder den kürzesten Weg zum Ziel wählt, dürfte deren Unterhaltung aber reine Geldverschwendung sein. Davon kündet auch der nieder getretene Zaun zwischen den Gleisen.

Den gerade entgegen kommenden Schnellzug mit 754 müssen wir wegen der baustellenbedingten Verspätung unseres Zuges ohne chemische Abbildemulsifizerung passieren lassen, doch dann können wir in den folgenden Stunden nachholen, was uns nach dem Wetterabsturz gestern verwehrt blieb. Durch die weiten Schleifen, die die Strecke hier beschreibt, findet sich bei strahlender Sonne für jeden Zug irgendwo eine Stelle, an der er richtig im Licht liegt. Geboten bekommen wir 842 als Personenzug, eine Taucherbrille mit Bautzner Mitteleinstiegswagen und den zurück kehrenden 850 als R 722, der hier auf seine alten Tage tatsächlich noch einmal die höheren Weihen zum Schnellzug erhalten hat - allerdings mehr Zug als Schnell: Gurgelnd und unter heftiger Abgasentwicklung kämpft er sich und seine zwei Beiwagen über die lange Steigung zu Berge. Von erhöhter Warte nett anzusehen, doch ich denke an die armen Fahrgäste, die da die vollen 3 Stunden Vlárský prusmyk mitfahren müssen.

Die mitunter einstündigen Zugpausen gewährleisten stressfreies Arbeiten und genügend Zeit, zwischendurch auch mal nutzlos in der Sonne zu liegen, bis wir mit dem 20 min verspäteten Os 2714 den Rückweg nach Brünn antreten. Als Tagesziel wurde inzwischen der Nachtschnellzug um 23.30 Uhr von Breclav nach Nordböhmen ausgeguckt, um morgen einmal Richtung Böhmerwald zu starten. Bei der am letzten Sonntag beobachteten Nachfrage in diesem Zug machen wir uns keine Sorgen um freie Plätze.

Bequem reist es sich auf den gepolsterten Sitzen im 842. Bei der Ankunft gegen 18.15 Uhr in Brünn haben wir bis zur Nachtzugabfahrt um halb zwölf Uhr ab dem 60 km entfernten Breclav noch eine Menge Zeit. Im Bereich der Kopfgleise im Südteil des Bahnhofes ist ein 830 am Hin- und Herfahren, außerdem lässt sich ein Stück weiter hinten die in großen Lettern als "Prototyp" beschriftete 714 001 die Sonne auf ihren ziemlich ungepflegten Körper scheinen. Wir entsinnen uns der vorgestrigen Fahrt hinauf nach Královo Pole um 18.55 Uhr, als unserem Zug eine der beiden 263 vorgespannt war. Dieser Zug lag dort oben hervorragend im Licht. So nehmen wir für 8 Kronen pro Nase per Straßenbahn die Strecke nach Královo Pole in Angriff und kommen nach einem Umstieg von der Linie 1 in die Linie 6 sogar in den Genuss einer Fahrt mit den Brünner Gelenk-Tatras.

Die Straßenbahn nimmt auf einer schnurgeraden Ausfallstraße den direkten Weg und benötigt nicht wesentlich länger als ein Zug mit seinem Umweg durch den Rangierbahnhof Malomerice. Die Abendsonne taucht den Bahnhof um 19.10 Uhr, der planmäßigen Abfahrtszeit des erwarteten Os 4930, in ein warmes Licht. Leider hat der Zug 5 min Verspätung. Pünklich um 19.12 schiebt sich daher eine mächtige Wolke vor die Sonne, und es bleibt uns beim frustrierten Blick durch den Sucher lediglich die Erkenntnis, dass dieser Zug tatsächlich eine Planleistung der beiden Exoten sein muss - im Wolkenschatten rollt 263 001 an uns vorüber.

Standesgemäß mit einem Schnellzug fahren wir wieder in der Sonne zurück nach Brünn und steigen dort in den EC "Antonin Dvorak" Praha - Wien um, der uns in schneller Fahrt nach Breclav bringt. Bereitwillig lassen wir uns von tschechischen und österreichischen Grenzern im Zug kontrollieren, um eventuelle Diskussionen oder Misstrauensvoten zu vermeiden, wenn wir erzählen, wir würden ja in Breclav aussteigen. In Breclav verstaue ich meinen Rucksack in einem dieser komischen Schließfächer, die man durch ein Zahlenschloss mit selbst gewählter Ziffernkombination verriegelt. Diese aus einem Buchstaben und drei Zahlen bestehende Kombination stellt man an der Innenseite der Tür ein und schließt die Tür, wobei das dritte Schließfach dann auch wirklich funktioniert. Die Ziffernkombination darf man nun nicht mehr vergessen. Bei der Rückkehr stellt man diese Kombination auf einem weiteren Schloss auf der Außenseite der Tür wieder ein, und das Schließfach öffnet sich. Doch zuvor besuchen wir die Gaststätte des Hotels "Terezka", wo ich anno 2002 schon einmal Quartier bezogen habe, nachdem ich in Brünn keine bezahlbaren Unterkünfte gefunden habe. Knödel sind nicht im Angebot, daher gibt es Schweinegeschnetzeltes mit den runden Kroketten. Gegen 22.30 Uhr machen wir uns auf den Weg zurück zum Bahnhof. Das Schließfach spuckt dort sogar meinen Rucksack wieder aus.

Zu später Stunde ist in Breclav noch einmal große Eisenbahn zu erleben. Das von Joachim Piephans vor einigen Monaten im Lok-Report vorgestellte EC-Kreuz Breclav hat kurz vor Mitternacht ein ebenbürtiges Gegenstück mit internationalen Nachtzügen. Zunächst fährt eine slowakische Laminátka mit dem aus polnischen Wagen bestehenden Schnellzug "Bem" von Bratislava nach Stettin in den Bahnhof, am Zugschluss hängt der slowakische Kursschlafwagen Bratislava - Praha - Ustí - Cheb. Der leider fast völlig leere Zug erhält eine 363 vorgespannt, während auf dem Nachbarbahnsteig der schon beschriebene Schnellzug "Chopin" aus Wien nach Warschau einrollt. Das bereits vom Montag Morgen bekannte Ensemble aus polnischen, österreichischen, tschechischen und russischen Wagen nach Cheb, Warschau, Krákow und Moskau wird an diesem Tage durch einen slowakischen Liegewagen, der den ÖBB-Kollegen auf dem Weg über Prag und Pilsen nach Cheb vertritt, sowie einem ÖBB-Salonwagen im Orient-Express-Design angereichert, letzterer gut besetzt von einer Gruppe fröhlicher älterer Herren.

Der Kiosk auf dem Bahnsteig zwischen den Zügen weiß um das Geschäft zu später Stunde und hat auch um diese Zeit noch geöffnet. Für unseren Weg nach Nordböhmen haben wir nun die Wahl: Entweder den augenscheinlich völlig leeren Slowakenschlafwagen hinten am "Bem" oder das ebenfalls nicht übermäßig reichlich besetzte tschechische Gegenstück vis-á-vis hinten am "Chopin". Aus Gründen einer längeren Nachtruhe und der umsteigefreien Verbindung nach Pilsen entschließen wir uns für den CD-Wagen. Das ist dieses mal auch wirklich einer der tiptop umgebauten WLABmee-Schlafwagen, wie sie auch nach München, Stuttgart und Frankfurt am Main gelangen. Tilo findet das weiße Interieur zwar recht steril, aber die Laufruhe, Klimaanlage und eine Dusche im Wagen garantieren eine gepflegte Reise.

Wir buchen beim Schlafwagenbetreuer für 224 Kronen pro Nase ein Double-Abeil. Dieses wird sogleich zur ABC-Schutzzone erkärt, denn die Wolken, die unseren den ganzen Tag getragenen Schuhen entsteigen, sind gewaltig. Das Waschbecken in der Abteilecke mutiert sogleich zum Waschsalon, die Garderobe zum Wäschetrockner, und schließlich möchte man nach einem Tag in der Sonne auch an seine eigene Hygiene denken. Dazu will ich die Dusche am Wagenende nutzen und begebe mich mit Waschzeug und Handtuch auf den Weg. Am Anfang geht auch alles gut. Doch als ich mich abseifen will, beginnt die zuvor munter brausende Dusche plötzlich zu tröpfeln, das Wasser wird heiß und kalt, und auch das wilde Drehen an den Hähnen lässt nicht mehr Wasser sprudeln. So ziemlich mit dem letzten Tropfen spüle ich mir die Seife vom Körper, die Haare müssen dann schon im Waschbecken entseift werden - hier kommt seltsamer Weise noch Wasser. Fazit: Es gibt offenbar einen eigenen Wassertank für das Duschwasser, und das hat sich in Österreich wohl noch nicht herum gesprochen. Auch Tilo, der sich einige Minuten später auf den Weg zur Dusche macht - vielleicht hat sich ja wieder Wasser gesammelt - endet mit seinem Ansinnen schließlich vor dem Waschbecken.

Dennoch schlafen wir gut, und ich werde lediglich beim Kurswagentausch im unseligen Prerov wach: Beim Warten auf den "Cassovia" nach Prag stellt man unseren Wagen genau auf die stählerne Flussbrücke. Links und rechts brausen die Güterzüge durch den Bahnknoten, und bei jedem Zug dröhnt die Brücke unter uns.

Donnerstag, 20. Mai 2004: Nachtzug an Plzen - Nürnberg

Himmelfahrt! Wir fahren aber nur in den Böhmerwald, doch dort steigt die Strecke auch schon auf immerhin rund 800 m Höhe an. Vom Rangieren in Prag haben wir nichts mitbekommen, denn als wir kurz hinter Beroun aufwachen, hängen wir bereits an der Zugspitze des IC 152 nach Nürnberg. Ob wir, wenn wir mit einer normalen Binnenfahrtkarte gefahren wären, für dieses Stück wohl einen IC-Zuschlag zahlen müssten? Es gibt das von der Hinfahrt bekannte Frühstück aus der Plastikbox mit viel Abfall danach, bevor wir in Plzen hl.n. unseren Zug verlassen.

Das Wetter macht Hoffnung auf einen sonnigen Tag, so dass wir guter Dinge den Personenzug Richtung Železna Rudá / Bayerisch Eisenstein besteigen. Allerdings müssen wir uns bis Klatovy entscheiden: Entweder im Vorgebirge bleiben und dort den hinlänglich bekannten Altbautriebwagen nachstellen, die dort auf der KBS 185 nahezu den Gesamtverkehr bewältigen. Oder weiter hoch in die Berge, hinauf an die böhmisch-bayerische Grenze. Die Antwort gibt uns schließlich unser jeweiliges Etappenziel, denn Tilo möchte am Abend wieder in Dresden sein. Dazu muss man allerdings gegen 17 Uhr ab Pilsen fahren, wodurch ein weiterer Aufstieg in die Berge bei der geringen Fahrplandichte am Mittag kaum lohnend erscheint. So trennen sich unsere Wege im Abzweigbahnhof Janovice, wo bereits der erste 831 brummend auf Tilo wartet. Mein Ziel ist hingegen Stuttgart, tief im Westen, was eine Ausreise über Bayerisch Eisenstein oder Furth im Wald sinnvoll erscheinen lässt. Ich bleibe daher im Zug sitzen und genieße am offenen Fenster die eindrucksvolle Bergfahrt hinauf auf den Kamm des Böhmerwaldes, der schließlich im Tunnel bei Špicak unterquert wird.

Spicak: Es muss ja nicht unbedingt Dampf sein...

Kurz hinter dem Tunnel liegt der Bahnhof Špicak. Ein Rudel Fuzzys turnt bei unserer Einfahrt auf der Ladestraße umher, schaut aber angestrengt in die andere Richtung, wo ein Rauchpilz in den leicht bewölkten Himmel aufsteigt. Aha, Dampfsonderfahrt. Leider völlig gegenlichtig, sodass ich dem akustischen Schauspiel des ausfahrenden Zuges ohne Foto beiwohne und mich dann um den in der Sonne dösenden 831 kümmere, der hier zwischen Löwenzahnwiese und der Kulisse eines Berges Siesta hält. Rund um den Bahnhof werben in herrlichster Landschaft unzählige Pensionen um Kundschaft und ich weiß, hier ganz bestimmt nicht das letzte Mal gewesen zu sein. Mit dem 831 fahre ich einige Zeit später hinab nach Železna Rudá mesto, dem ehemaligen Endbahnhof für Reisezüge aus dem damals noch tschechoslowakischen Binnenland. Oberhalb des Bahnhofes, dessen Empfangsgebäude gerade eine Frischzellenkur erfährt, erstreckt sich eine Wiese, die zu einem entspannten Warten mit Nichtstun in der Sonne geradezu einlädt. Ein kleiner Bach fließt am Rande der Wiese vorüber.

Später dann fließen Teile des Baches allerdings auf die Wiese, schließlich kann man ja nicht über eine Stunde nur Nichtstun. Zwar ziehen wieder die im Gebirge wohl unvermeidlichen Wolken vorüber, doch als der Triebwagen-Oldtimer auf seiner Rückfahrt schließlich vor der Kulisse des Großen Arbers unter meiner Wiese zum Halten kommt, zieht die Wolke gerade vom Bahnhof weg. Dann erlege ich kameralistisch noch den bebrillten Gegenzug in der Ortsdurchfahrt von Železna Rudá und steuere dann eine Gaststätte an, um ein letztes Mal die gute böhmische Küche genießen zu können.

Selbige ist wie das Tekezka in Breclav allerdings bereits in Teilen der EU-Regelungswut - Mahlzeiten dürfen nicht länger als drei Stunden warm gehalten werden - zum Opfer gefallen: Die klassischen Knödelgerichte wie Lendenbraten oder Gulasch sind frisch auf der Speisekarte überklebt worden. Also runde Kroketten, dieses Mal wieder mit Huhn. Anschließend mache ich mich auf den Weg zum Grenzbahnhof Železna Rudá / Bayerisch Eisenstein, der allerdigs gut 3 km außerhalb des Ortes liegt. Auf der Landstraße kommen mir Unmengen deutscher Autos entgegen, man merkt, dass dort heute Feiertag ist. Bevor ich von den Pneus eines teutonischen Tagestouristen zermahlen werde wechsele ich zum Marschieren schließlich auf den Bahndamm. Bei sommerlichen Temperaturen fließt der eine oder andere Tropfen Schweiß. Im Gemeinschaftsbahnhof Železna Rudá / Bayerisch Eisenstein laufe ich auf dem Bahnsteig von Tschechien nach Deutschland und werde prompt vom Bundesgrenzschutz in seiner Bude kontrolliert. Wie ich später feststelle hätte ich auch vor dem Bahnhof entlang gehen können - das läuft als "Wanderweg" ohne Kontrollstation.

Bis zur Abfahrt des gelb-grünen "Waldbahn"-Regio-Shuttles - irgendwie habe ich die in weiß-grün in Erinnerung - ist noch ein wenig Zeit für die Ausstellung im Bahnhofsgebäude. Dort gibt es Wissenswertes über den Böhmerwald, die Grenze und die Eisenbahnverbindung zu erfahren. Auch verkehrt auf einem mehrere Meter langen Modellbahngleis ein Sprachenschienenbus: Auf einem Tableau muss man deutsche Redensarten wie etwa "Guten Tag" ins Tschechische übersetzen. Drückt man bei der Auswahl der Antworten den richtigen Knopf "dobry den" auf dem Tableau, fährt der Schienenbus ein Stück weiter bis zum nächsten Tableau. Bei falscher Antwort bleibt der Zug stehen.

Schließlich bringt mich der Waldbahn-Shuttle "im Auftrag der DB", wie das Schild an der Frontscheibe verkündet, hinunter ins Tal. Der herumliegenden Passauer Tageszeitung entnehme ich, dass Leipzig nicht in die engere Auswahl für die Olympischen Spiele gekommen ist, Otmar Hitzfeld beim FC Bayern München gefeuert wurde und Bundeskanzler Gerhard Schröder eine Ohrfeige bekam. In Regen und Ulrichsberg bekomme ich, noch keine Stunde auf DB-Gleisen unterwegs, sogleich das in Tschechien fast unbekannte Bild eines vorrangig börsenorientierten Unternehmens zu sehen: Bahnhöfe, nach Ausbau sämtlicher Weichen zu Haltepunkten degradiert oder als Betriebsstelle ganz aufgelassen, weil man sie im laufenden Fahrplan gerade nicht braucht und es ja auch keine Verspätungen auf der eingleisigen Strecke gibt. Von Plattling nach Nürnberg genieße ich den Komfort eines ÖBB-Abteilwagens.

Die ausliegende DB-Kundenzeitschrift schreibt über Kunstausstellungen, interviewt Wirtschaftsbosse und bewirbt Designerkoffer, nur die Eisenbahn sucht man in dem Magazin fast vergebens (nach einigem Suchen findet man dann doch noch drei Seiten über den ICE). Kurz vor Regensburg stehen drei 140 abgestellt: Eine in neurot mit Lätzchen, eine in verkehrsrot mit "Railion"-Beschriftung und eine verkehrsrote ohne jegliche Aufschriften. Und während man hinter den Bergen des Bayerischen Waldes mit günstigen und unkomplizieren Fahrpreisen lockt, Zugbegleiter selbst im Schienenbus bietet und sich bei ausreichend dimensionierter Infrastruktur ehrlich dazu bekennt, eine Eisenbahn zu sein, pinselt man hier alle zwei Jahre seine Lokomotiven neu an und schreibt englische Kunstbegriffe auf die Loks. Ob das den Fahrgast wirklich interessiert? Immerhin lege ich die 160 km bis Nürnberg in nur 1 ˝ Stunden zurück. Zugegeben: Das schafft die CD nicht.

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